Meyer, Clemens by wir traeumten Als

Meyer, Clemens by wir traeumten Als

Autor:wir traeumten Als
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-04-28T21:17:05+00:00


IN DER »SILBERHÖHE«

»Und, Daniel«, sagt Frau Seidel und blickt mich über ihre Brille hinweg an, »wie geht es zu Hause?«

»Geht so«, sage ich, »geht ganz gut.«

»Und hilfst du deiner Mutter auch schön?«

»Ja«, sage ich.

»Das ist gut«, sagt sie, »ein Pionier ist immer hilfsbereit. Vor allem zu seinen Eltern ... « Sie rückt ihre Brille zurecht. » ... zu seiner Mutter. Gib mir dein Hausaufgabenheft.« Ich öffne meinen Schulranzen und reiche es ihr. Sie nimmt ihren Füller, nicht den mit der roten Tinte, und schreibt was rein. »Zeig das deiner Mutter, da wird sie sich freuen.«

»Ja«, sage ich, »danke.« Ich packe mein Hausaufgabenheft wieder ein.

»Ich habe gehört, du hilfst Rico bei der Wiedereingliederung ins Kollektiv.«

»Ja«, sage ich, »ja.«

»Ein Pionier ist immer hilfsbereit«, sagt sie und hebt den Zeigefinger, aber all das weiß ich ja schon und habe es so oft gehört, »aber er muss auch diszipliniert gegen sich selbst sein. Ein Pionier muss auch seine eigenen Leistungen und Ziele diszipliniert verfolgen. Verstehst du mich, Daniel?«

»Ja«, sage ich, »ja.«

»Und wir haben Rico nicht umsonst noch einmal in die fünfte Klasse eingegliedert. Er muss uns jetzt zeigen, dass er den Willen hat. Nur er ganz allein, von ihm hängt es ab. Er muss diszipliniert seine neuen Ziele erreichen. Und wir geben ihm die Möglichkeit.« Sie blickt mich an, und ich sehe, wie ihre Brille auf ihre Nasenspitze rutscht, und ich sage: »Ja.«

»Lass dich nicht ablenken von ihm.« Sie spricht plötzlich sehr leise und neigt den Kopf, dass er fast ihre Schulter berührt. »Denk an deine Ziele, Daniel. Bitte.«

»Ja, Frau Seidel.«

»Gut, Daniel, du kannst jetzt gehen.«

Ich nehme meinen Schulranzen. Frau Seidel packt das große Klassenbuch in ihre Tasche, dann schließt sie die Schreibtischschublade ab.

»Auf Wiedersehen, Frau Seidel.«

»Ja, Daniel, auf Wiedersehen.«

Ich gehe aus dem Klassenzimmer, Frau Seidel klappert hinter mir mit dem Schlüsselbund. Ich laufe die Treppe runter. Ich laufe runter auf den Schulhof, am Hintergebäude vorbei auf den Sportplatz. Hier dreht Rico manchmal seine Runden oder läuft die hundert Meter, immer wieder, das ist gut für seine Ausdauer. Rico boxt jetzt in der Bezirkssportgruppe. Der Sportplatz ist leer. Ich kenne Ricos Stundenplan nicht. Wir sehen uns nicht mehr so oft, aber das liegt auch an dem Ärger bei uns zu Hause.

Auf der kleinen Wiese vor der Mauer sitzen zwei Mädchen und sonnen sich. Ich krieche durch das Loch im Drahtzaun und laufe nach Hause. An der Ecke hinter der Brücke liegt die »Silberhöhe«, die Stammkneipe meines Vaters. Ich bleibe vor der Tür stehen. Ich höre viele Stimmen und das Klirren von Gläsern. Ich höre Vaters Stimme: »He, Danie, komm rein, 'ne Limo. Und sag dann Mutter, dass ich gleich nach Hause komme.« Ich gehe ganz langsam die drei Stufen hoch bis zur Tür und mache sie auf und trete ins Halbdunkel der »Silberhöhe«.

Herz Dame, Kreuz As, Pik König und der Alte. Die großen Spielkarten aus buntem Glas leuchten rechts neben der Tür an der Wand. Ich laufe langsam an ihnen vorbei und suche meinen Vater. Aber ich sehe ihn nicht. Auch nicht dort hinten, wo zwei Männer sitzen, die dicke Zigarren rauchen; Vater versteckt sich nicht in dem Qualm.



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